Schneeflockengeschichte

 

Weißt du noch, letzten Frühling,
als ich dich unbedingt haben wollte,
da hab' ich dir auf deinem Schulweg eine Grube gegraben,
in die ich aber selbst hineinfiel.
Voll Mitleid hast du mich geborgen
und hast mir zärtlich meine gebrochenen Beine geschient.
Weißt du noch, dieser letzte Frühling,
mit seiner grenzenlosen Zärtlichkeit,
mit seinem grenzenlosen Mitleid.

Weißt du noch, letzten Sommer,
als wir uns unbedingt hatten,
da haben wir bei Nacht und Nebel alle Gondeln Venedigs gestohlen
und sie bei uns zuhause versteckt.
Wir haben sie mit diesem aufregenden Rot bemalt
und sie gegen Gott und alle Carabinieris der Welt verteidigt.
Weißt du noch, dieser letzte Sommer,
mit seinem grenzenlosen Rot,
mit seinem grenzenlosen Mut.

Und weißt du noch, letzten Herbst,
als da manchmal Mißtrauen in deinen Augenwinkeln aufblitzte
und du mich in manchem Traum an Stelle von Tontauben
Säuglinge schießen sahst,
da wollte ich alle Blätter, die da lagen, zurück an die Bäume
kleben,
ich wollte die Zeit aufhalten.
Weißt du noch, dieser letzte Herbst,
mit seiner grenzenlosen Anzahl von Blättern,
mit seiner grenzenlosen Ohnmacht.

Und gestern, da hab' ich dir zum Abschied sieben Schneeflocken
vor die Tür gelegt.
In deiner Dummheit hast du sie zu sieben Wassertropfen
zertreten,
das hätte ich dir noch verziehen.
Aber, dass du nicht gewusst hast, dass diese sieben Wassertropfen
sieben Tränen von mir waren, das werde ich dir nie verzeihen.
Ja,
dieser Winter, mit seiner grenzenlosen Dummheit,
seiner grenzenlosen Unwissenheit.


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